Bürgerräte sind vor allem durch ihren Einsatz in Irland bekannt geworden. Die Republik Irland hat damit sogar Vorschläge zur Verfassungsreform erarbeiten lassen. Ursprünglich kommen die „Citizens Assemblies“ (eigentlich „Bürgerversammlungen“) aus Kanada, genauer: aus British Columbia, wo 2004 eine Wahlrechtsreform von 160 im Zufallsverfahren gewonnenen Bürgerinnen und Bürgern vorgeschlagen worden ist.

Unterschiede zu Bürgergutachten durch Planungszellen sind häufig:

  • geschichtete Auswahl der Teilnehmenden (man achtet darauf, dass Geschlechter, Bildungsabschlüsse usw. möglichst entsprechend der Gesamtbevölkerung verteilt sind)
  • Kleingruppen mit 10 und mehr Teilnehmenden an großen Tischen
  • Moderation der Kleingruppen und Formulierung der Empfehlungen durch Profis
  • Vorsitz durch eine prominente Person (ehemalige Politiker/in)
  • Arbeit an (mehreren) Wochenenden
  • Arbeit zu einer Zeit an einem Ort

Warum diese Unterschiede, und warum wird es in der Planungszelle anders gemacht?

Die geschichtete Auswahl unterstellt, dass Meinungen und Haltungen hauptsächlich von Geschlecht, Alter, Bildung usw. abhängig seien. Das sind letztlich ständestaatliche Vorstellungen. Die Schichtung bildet einen Eingriff in den Zufall und eine zweite Hürde zur Teilnahme.

Gruppen mit zehn Teilnehmenden ermöglichen nur halb so viele Wortmeldungen in der gleichen Zeit wie Kleingruppen zu fünf Personen. In der Erfahrung und sozialpsychologischen Studien hat sich gezeigt: In Fünfergruppen melden sich die Menschen öfter und kommen mehr zu Wort, können mehr auf Augenhöhe zusammenarbeiten usw.

Sobald ein „Profi“ dabei sitzt, benehmen sich viele Menschen anders. Sie versuchen dann noch mehr, sich möglichst den Erwartungen anzupassen. Damit werden Diskussionen teilweise unabsichtlich und unmerklich beeinflusst.

Ein Bürgerbeteiligungsverfahren braucht keine*n Promi oder Profi als Vorsitzende*n. Damit signalisiert man doch, dass die „Laien“ geführt und begleitet werden müssen, dass sie erst dann für die Öffentlichkeit interessant sind, wenn jemand ihnen sein bekanntes Gesicht leiht, und dass sie ohne Politprofis und Prominente nicht so gut arbeiten könnten. Das widerspricht in gewissem Sinne der Idee, dass die zufallsausgewählten Bürger*innen „den Souverän“ im demokratischen Gemeinwesen auf eine bestimmte Weise repräsentieren.

Arbeit an Wochenenden scheint auf den ersten Blick leichter zu organisieren als an Arbeitstagen. Doch wird in unserer Gesellschaft ernsthaft eben meistens an Wochentagen gearbeitet. Die Verteilung auf mehrere Wochenenden macht es für viele schwerer, sich die Zeit zu nehmen (Familie, Freizeit, Ehrenamt usw. sind ja nicht weniger wichtig als die Berufsarbeit). Bürgerbeteiligung wird zu einer weniger verbindlichen Freizeitbeschäftigung.

Wenn ca. 160 Personen zu einer Zeit an einem Ort zusammenkommen, dann wirkt das zunächst beeindruckender, als wenn es immer nur 50 sind oder nur 25 (eine Planungszelle). Doch entsteht, vor allem, wenn die Teilnehmenden logischerweise in Hotels gemeinsam untergebracht sind, sehr leicht „Gruppendenken“ (groupthink), also eine Eigendynamik, bei der die Verbindung zum Alltag, zur Familie usw. sich lockert. Bürgerbeteiligung will aber gerade das reale Leben in die Politik bringen. Deshalb scheint es uns günstiger, wenn die Menschen abends wieder bei ihren Familien und Freunden sind und Abstand gewinnen können zur Bürgerbeteiligungs-Gruppe.

Dass fast immer bei überreginalen Bürgergutachten mehrere Planungszellen an mehreren unterschiedlichen Orten stattfinden, erscheint deshalb günstig, weil die Menschen immer wieder nach Hause kommen, weil unterschiedliche regionale Sichtweisen erkennbar werden und weil die Fahrzeiten geringer sind.

Dennoch sind Bürgerräte oder Bürger*innenräte aus unserer Sicht ein Schritt in die richtige Richtung. In anderen Ländern haben sie realen Einfluss auf Verfassung und Politik gehabt. Und darauf kommt es an: dass aus der Bürgerbeteiligung etwas Wirkliches folgt.