Bürgerbeteiligungsverfahren finden üblicherweise statt, wenn Politiker oder höhere Beamte das so wollen. Könnte, sollte Bürgerbeteiligung auch von „unten“ angestoßen oder sogar organisiert werden? Und wie kann auch sonst die Verbindung zwischen den beteiligten Bürgerinnen und Bürgern und denen, die nicht an so einem Verfahren teilgenommen haben, verbessert werden? Das waren die Fragen, die sich eine Veranstaltung des »Netzwerk Gemeinsinn« am 29. Oktober 2007 in München im »Feierwerk« gestellt hat.

Der Abend begann wie immer nach der Begrüßung, Einführung und Vorstellung des Netzwerks Gemeinsinn und des LeMoMo durch Hubert Schiefer mit einem Buffet, zu dem alle Anwesenden etwas beigesteuert hatten. Hilmar Sturm führte in die Fragen ein, die das Grundgerüst des Abends bildeten. Mehrere Aspekte, die sich gegenseitig beeinflussen, wurden genannt:

  1. Kann und soll aus der Bürgerschaft selbst der Anstoß zur Bürgerbeteiligung kommen? In München hat schon einmal ein Bürgerbegehren genau das versucht. »Unser München aus der Schuldenfalle« schlug vor, dass Planungszellen ein Bürgergutachten abgeben, wo wie sinnvoll gespart und sinnvoll Geld ausgegeben werden kann. Es scheiterte seinerzeit leider.
  2. Einen Schritt weiter geht die Frage, ob und in welcher Weise aus der Bürgerschaft selbst heraus ein Bürgerbeteiligungsverfahren sogar organisiert werden kann. Insbesondere die Neutralität der Organisation und Moderation ist hier gefährdet.
  3. Wie kann die breite Öffentlichkeit besser über Verfahren und Ergebnisse eines Bürgerbeteiligungsverfahrens informiert werden?

Ausgegangen wurde vom Verfahren Bürgergutachten durch Planungszellen, bei dem der Auftrag stets von einer politischen Instanz kommt, ein unabhängiger Durchführungsträger die Organisation und Moderation übernimmt, die Teilnehmer im Zufallsverfahren – also im Wesentlichen repräsentativ – ausgewählt werden, mehrere Tage an dem Thema arbeiten, von Experten dazu wichtige Informationen erhalten, vorwiegend in immer neu durchwechselnden Kleingruppen arbeiten und schrittweise ihre Einschätzungen und Empfehlungen abgeben, die dann in Form eines Bürgergutachtens dem Auftraggeber überreicht und veröffentlicht werden.

Wolfgang Scheffler stellte dieses Modell vor, anhand zweier von ihm erstellter Schaubilder. Ergänzt wurde seine Beschreibung durch die Erfahrungen von Hilmar Sturm und Benno Trütken (aus Fürstenau bei Osnabrück), die seit Jahren Bürgergutachten-Prozesse organisieren.

Hilmar Sturm stellte anschließend noch einige Ergebnisse einer Umfrage japanischer Wissenschaftler zum „Bürgergutachten für Gesundheit“ vor. Befragt waren Teilnehmer und Nichtteilnehmer worden, ihre Antworten wurden verglichen. Ein Ergebnis war, dass 70 % der Nichtteilnehmer angaben, überhaupt nichts von diesem Bürgergutachten gehört zu haben – obwohl in ihrem Landkreis oder ihrer Stadt Planungszellen getagt hatten und darüber in der örtlichen Presse berichtet worden war. 28 % hatten immerhin davon gehört, nur 2 % fühlten sich gut darüber informiert. Dabei gibt die Repräsentativität der Teilnehmer dem Verfahren sein Gewicht. Wenn das Gemeinwesen in der Teilnehmerschaft einigermaßen gut abgebildet ist, werden auch die Nichtteilnehmer dem Prozess und den Ergebnissen eines Bürgergutachtens zustimmen können. Wolfgang Scheffler betonte die Wichtigkeit der Information: Wenn Verfahren und Inhalte eines Bürgergutachtens bekannter sind, regelt sich auch das Problem der Umsetzung und Verbindlichkeit. Der Druck wird größer.

Zwei Probleme auf einmal könnten gelöst werden, wenn Bürgergutachten als Vorstufe für Bürger- und Volksentscheide eingeführt würden: ein Bürgergutachten könnte die Fragestellung erarbeiten oder einen »Voter’s Guide« gestalten, also ein Informationsheft, das jeder Stimmberechtigte erhält. Damit würde dafür gesorgt, dass alle Abstimmenden gut informiert sind. Das würde die Qualität der Entscheidungen verbessern. Bei den Abstimmungen in einigen Staaten Europas über den Europäischen Verfassungsvertrag wusste wohl kaum jemand, worum es eigentlich ging; der Entwurf umfasste 482 Seiten.

Auch die Themen, die in Wahlkämpfen und in der politischen Diskussion allgemein eine Rolle spielen, könnten durch Bürgergutachten ausgewählt werden. Welche Themen sind wirklich wichtig? Bürgergutachter könnten eine Prioritätenliste aufstellen, die wahrscheinlich nicht mit dem übereinstimmen würde, was in den Medien und Parlamenten lang und breit behandelt wird.

Kann Bürgerbeteiligung auch ohne Politiker stattfinden? Wie würden die Menschen reagieren, wenn sie nicht von einem Bürgermeister oder Ministerium, sondern von einer Stiftung oder Bürgerinitiative eingeladen würden, an einem Bürgergutachten mitzuarbeiten? Diskutiert wurde, dass möglicherweise allgemein anerkannte, seriöse Prominente einem solchen Verfahren Akzeptanz geben könnten. Das Geld für ein gutes Verfahren könnte möglicherweise durch Spenden gesammelt werden. Ein neutraler Durchführungsträger müsste auf alle Fälle die Qualität garantieren.

Politikern könnte aber auch klargemacht werden, dass Bürgerentscheide mehr kosten als Bürgergutachten, und das bei im Vergleich geringerem Nutzen, weil in Abstimmungen nur Schwarzweißentscheidungen getroffen werden können.

Ein origineller Vorschlag war, eine Partei für Bürgerbeteiligung zu gründen, eine Partei, die nicht für bestimmte Inhalte steht, sondern für Verfahren, durch die bürgernahe, vernünftige Lösungen ermittelt werden. Eine Partei, die verspricht, möglichst viele Bürgergutachten durchzusetzen. Der Vorteil der Partei wäre, dass sie viel Aufmerksamkeit erhalten, Nichtwähler ansprechen und an der staatlichen Parteienfinanzierung teilhaben könnte. Als Nachteile wurden genannt, dass eine Partei vielen Menschen, die an sich Bürgergutachten unterstützen würden, suspekt erscheinen oder dass sie sich doch zu einer Partei entwickeln könnte wie andere auch. Vor allem ist mit einer Partei und ihrer Gründung viel Verwaltungsarbeit verbunden, die Kräfte bindet.

Vorgeschlagen wurde außerdem, dass Schulbuchverlage angesprochen werden sollten, damit Bürgerbeteiligungsverfahren in Sozial- und Staatsbürgerkunde behandelt werden.

Ein Vorschlag, den alle unterstützten, war ein »Kettenbrief« für Bürgergutachten, der möglichst auf dem Postweg, nicht per E-Mail, verbreitet werden soll. Diesen Vorschlag hat Wolfgang Scheffler inzwischen verwirklicht. Auf seiner neuen Homepage www.neue-demokratie.org und natürlich auch hier unter www.buergergutachten.com/de/neuigkeiten/artikel/23/66 stehen der Brief, ein Aufruf und eine Methodenbeschreibung der Aktion Bürger für Bürgergutachten zum Download bereit.