Kann man Jugendliche an der Vorbereitung politischer Entscheidungen beteiligen? Geht das, wenn es um komplexe Fragen geht? Beteiligt man sie allein oder zusammen mit Erwachsenen? 

Am Beispiel des Europäischen Bürgergutachtens zur Zukunft der ländlichen Räume hat sich gezeigt: Es ist möglich und sinnvoll, dass die Jugendlichen zusammen mit den Erwachsenen arbeiten – sogar über Sprachgrenzen hinweg und bei sehr intensiver Arbeit.

In einem Beitrag für den Newsletter des Wegweisers Bürgerbeteiligung der Stiftung Mitarbeit hat Hilmar Sturm von der gfb einige Erfahrungen und Gedanken dazu aufgeschrieben. Der Beitrag kann hier heruntergeladen werden und ist im Folgenden wiedergegeben.

In einem früheren Beitrag zum Newsletter des BBE hatte Hilmar Sturm bereits allgemein die Bürgerbeteiligung im ländlichen Raum betrachtet. (Diesen Beitrag können Sie hier herunterladen.)

Jugendbeteiligung am Beispiel des Europäischen Bürgergutachtens zur Zukunft der ländlichen Räume

Hilmar Sturm

Jugendliche beteiligen: das riecht nach Spiel- und Bolzplätzen und nach Pädagogik, so ein gängiges Vorurteil. Auch die Bürgerbeteiligung überhaupt hat ja für manche diesen Geruch von Nische und Spielecke. Kann man Jugendliche aber auch beteiligen, wenn es um komplexe politische Fragen geht? Und das über Grenzen hinweg? Man kann, und zwar mit Erfolg, wie das Beispiel des Europäischen Bürgergutachtens zur Zukunft der ländlichen Räume (European Citizens Panel) zeigt.

Jugendliche und ernsthafte Politik

Ich gebe zu, ich war selber sehr skeptisch, als unsere britischen Kooperationspartner mitteilten, dass sie ihre Teilnehmer/innen ab einem Alter von zwölf Jahren ausgewählt hätten. Wir saßen in einem Institut am Bloomsbury Square in London und waren dabei, das erste europäische Bürgergutachten zu konzipieren und durchzuplanen. Themen und Verfahren schienen uns schon für erwachsene Teilnehmer/innen anspruchsvoll genug. Und nun auch noch Kinder? Die Kinder und Jugendlichen erwiesen sich dann aber als große Bereicherung. Für sie war etwas mehr Aufwand nötig, aber sie brachten auch enorm viel ein.

Zupackend und realistisch

Um beim Ende zu beginnen: Es war ein englisches Mädchen, das im vollbesetzten Saal des Ausschusses der Regionen der EU in Brüssel, vor hoch- und höchstrangigen Politikern und Beamten, darunter der EU-Kommissarin Mariann Fischer Boel, die Sache auf den Punkt brachte.

Die Bürger/innen hatten am 2. April 2007 nach drei Tagen intensiver gemeinsamer Arbeit in und bei Brüssel der EU-Kommissarin, einem Vertreter der EU-Ratspräsidentschaft und Vertretern des Europäischen Parlaments, des Ausschusses der Regionen und der beteiligten nationalen und regionalen Regierungen ihre Empfehlungen, also das Europäische Bürgergutachten, in Kurzform präsentiert.

Die Empfänger waren voll des Lobes, hielten sich aber sehr zurück, als gefragt wurde, was denn nun daraus werde. Die Frage wurde mehrmals wiederholt, und die Antwort lautete in Variationen ungefähr immer wieder: »Da müssen wir erst Mechanismen entwickeln, wie in der EU mit so einem Bürgergutachten umgegangen wird und in welcher Form die Kommission darauf antwortet.«
Das erwähnte englische Mädchen sagte nun, ihr fielen da schon Mechanismen ein: Man könne eine E-Mail schreiben, einen Brief oder alle Bürgergutachter/innen wieder nach Brüssel einladen, um mit ihnen darüber zu reden, welche Wirkungen das Bürgergutachten hatte, haben wird oder haben könnte – also welche Konsequenzen Verwaltung und Politik in Brüssel ziehen.

Leider gab es auch auf diesen klaren Vorschlag keine klare Antwort. Das und überhaupt die Eindrücke dieses Tages veranlassten den Vertreter der Regierung des schweizerischen Kantons St. Gallen, im Gespräch mit dem Vizepräsidenten der französischen Région Rhône-Alpes zu sagen: »Ich weiß jetzt schon, was der Unterschied zwischen der Schweiz und der EU ist. Bei uns stehen die Bürger über den Politikern, bei euch ist es umgekehrt.«

Mehr Aufwand für die Jugend – aber er lohnt sich

Aber zurück zum Anfang. Wie bei deutschen Bürgergutachten nach dem Modell der »Planungszelle« von Prof. Dr. Peter Dienel (1923–2006) üblich, haben wir in zwei Landkreisen in Bayern sowie in der Region Toggenburg im Kanton St. Gallen die Teilnehmer/innen im Zufallsverfahren ab 16 Jahren ausgewählt. Auch in den anderen 6 Regionen lag die Altersgrenze nicht weit davon.

Ab 16 bedeutet, dass schon seit langer Zeit an Bürgergutachten auch Jugendliche mitwirken (üblicherweise bezeichnet man Menschen bis zu 18 oder auch 21 Jahren als Jugendliche, nach UNO-Begriff sogar bis 25). Das hat immer problemlos geklappt. Mit 16 wird man in der Schule schließlich auch gesiezt oder beginnt eine Berufsausbildung. Aber ab 12? Es ging um die Zukunft der ländlichen Räume, und da sollten in England diejenigen besonders eingebunden werden, die diese Zukunft noch am längsten zu erleben haben.

Die minderjährigen Briten mussten (aus rechtlichen Gründen) von zusätzlichem Personal begleitet werden, von berufsmäßigen Erzieher/innen. Manchen Jüngeren fiel es nicht ganz leicht, den ganzen Tag zuzuhören, sich auf verschiedenste, oft abstrakte Dinge zu konzentrieren, sich mit Hilfe von Simultandolmetschern mit teilweise viel älteren Menschen aus anderen Ländern auszutauschen und Empfehlungen zu erarbeiten. Sie brauchten im Vergleich öfter mal eine Pause und wollten an die frische Luft (das täte bei den meisten Verfahren allen Beteiligten gut.) Aber sie waren eine echte Bereicherung für die Teilnehmer/innen, die Moderator/innen und das ganze Verfahren. An einen erinnere ich mich besonders: Alex, 12 oder 13 Jahre alt, und aufgeweckter als die meisten erwachsenen Teilnehmer. In dem Alter hätte ich mich das alles nicht getraut – oder hätte ich gelernt mich zu trauen, wenn ich zu so einem europäischen Bürgergutachten eingeladen worden wäre?

Es gibt nicht wenige Beteiligungsverfahren für Kinder und Jugendliche. Das ist zweckmäßig. Was fehlt, ist dann oft der direkte Austausch von Alt und Jung. Deshalb: Jugendliche gemeinsam mit Erwachsenen zu beteiligen, ist sinnvoll und machbar. Es macht ein bisschen mehr Aufwand, aber es lohnt sich.

Das Europäische Bürgergutachten: ein innovatives Verfahren

Insgesamt haben am europäischen Bürgergutachten 337 Menschen teilgenommen, und zwar in acht Regionen in zehn Staaten (siehe Übersicht). Sogar die Schweiz war beteiligt, das Bürgergutachten ging damit über die EU hinaus.

Übersicht der beteiligten Regionen beim Europäischen Bürgergutachten zur Zukunft der ländlichen Räume:

  • Région Wallonne (Belgien)
  • Kanton St. Gallen (Schweiz)
  • Freistaat Bayern (Deutschland)
  • Karpaten (grenzüberschreitendes Regionalpanel von Slowakei und Ungarn in Moldava nad Bodvou und Szikszó)
  • Région Rhône-Alpes (Frankreich)
  • Cumbria und Durham (Großbritannien)
  • Nordirland (grenzüberschreitendes Regionalpanel mit zwischen Nordirland und der Republik Irland, 5 counties und 7 district councils)
  • Provinz Flevoland (Niederlande)

Das Verfahren war zweistufig aufgebaut. In der ersten Stufe fanden regionale Bürgergutachten statt. Sie brachten Einschätzungen und Empfehlungen für die nationale und regionale Politik für den ländlichen Raum. Aus den einzelnen Berichten wurde eine Zusammenfassung gemacht; außerdem fertigte Professor Michael Murray von der Queen’s University in Belfast eine Analyse an. Diese dienten als Grundlage für das Arbeitsprogramm des eigentlichen European Citizens Panel.

Zu diesem entsandte jedes regionale Panel acht bis zehn Teilnehmer/innen, die zumeist wiederum im Zufalls-verfahren ausgewählt worden waren. Sie, insgesamt 87, reisten nach Brüssel und trafen sich Freitagmittag im Gebäude des Ausschusses der Regionen. Jede Region präsentierte sich mit einer kleinen Ausstellung, die die Sprachbarrieren überwinden half.

Im Plenum ging es dann darum, aus der Querschnittsanalyse der regionalen Bürgergutachten die wichtigsten Aspekte für die kommende Arbeit auszuwählen. Es ergab sich eine für alle Teilnehmenden sichtbare Prioritätenliste von Themen. Am Abend reiste die ganze Gruppe zu einem Tagungshotel in der Nähe Brüssels.
Am nächsten Tag wählten sich gemischtsprachige Gruppen bis zu drei Vertiefungsthemen. Zu diesen sammelte jede Gruppe (mit etwa 10 Teilnehmer/innen in zwei Sprachen) außerdem die wichtigsten concerns, also Probleme und Anliegen. Diese Gruppen waren im Zufallsverfahren zusammengesetzt worden. Ihre Ergebnisse wurden im Plenum vorgestellt.
Zu den Vertiefungsthemen entwickelten die Gruppen nun ihre Visionen und sammelten die wichtigsten Fragen an die Experten, die für den Sonntagvormittag erwartet wurden. Auch darüber tauschte man sich im Plenum aus.

Nach der Expertenanhörung im Plenum erarbeiteten die Gruppen am Sonntag dann ihre eigentlichen Empfehlungen, also Maßnahmenvorschläge. Darüber hinaus wurden einige Fragen entwickelt, die am Montag den Politiker/innen und hohen Beamten bei der Präsentation der Empfehlungen gestellt werden konnten.
In den Gruppen wurde simultan gedolmetscht; jede/r Bürgergutachter/in hatte einen Kopfhörer, und je ein Dolmetscher übersetzte in seine Muttersprache. Das Plenum war mit Dolmetscherkabinen ausgestattet, so dass aus allen Sprachen in alle Sprachen gedolmetscht werden konnte. Auch alle Zwischenergebnisse wurden in Pausen und Nächten sofort in alle Sprachen der Teilnehmenden übersetzt. Daran kann man sehen, wie aufwendig ein multinationales Beteiligungsverfahren ist. Es ist aber auch nicht aufwendiger als die normale »Komitologie« in Brüssel. Zusammenarbeit der Völker erfordert eben viel Übersetzungsarbeit. Soll man deshalb darauf verzichten? Missverständnisse, Unkenntnis und Vorurteile sind auf Dauer teurer.

Noch Sonntagnacht wurden die Ergebnisse ausgewertet, übersetzt und in vorläufiger Form gedruckt. Am Mon-tag wurden dann in Brüssel die Ergebnisse, wie schon beschrieben, direkt von Bürgerinnen und Bürgern präsentiert. Vertreter/innen der Bürger/innen aus allen Regionen saßen vorne auf dem Podium, die Politiker/innen und Beamten im Publikum – für beide Seiten ungewohnt.

Das europäische Bürgergutachten: Ergebnisse – die Jugend im Blick

An erster Stelle der Empfehlungen der europäischen Bürgergutachter/innen steht die Jugend; an zweiter Stelle folgt die Bildung. Das zeigt, dass auch sehr viele erwachsene Teilnehmende der Jugend einen hohen Stellenwert geben. (Auch andere Bürgergutachten zeigen übrigens diese Tendenz; so waren beim Bürgergutachten Unser Bayern – Chancen für alle, das im Auftrag des Bayerischen Ministerpräsidenten erarbeitet wurde, mit Abstand der wichtigste Politikbereich für die Bürgergutachter/innen Bildung und Erziehung, auf Platz drei lagen hier Familie und Kinder.)

Die beiden am stärksten gewichteten Einzelempfehlungen im Bereich Jugend lauteten: Die EU soll Mittel von der Landwirtschaft auf die Infrastruktur im ländlichen Raum umlenken, damit dieser für junge Leute attraktiver wird, und: Kinder und Jugendliche müssen in die Entscheidungsfindung aller EU-Projekte einbezogen werden – dafür soll es Standards und Richtlinien zur Mitbestimmung von Kindern und jungen Menschen geben!

Die sechste Position nahm übrigens das Themenfeld Beteiligung (Mitsprache) ein. Da wurde beispielsweise gefordert, dass die Verteilung von EU-Mitteln, ihre Kontrolle und das Feedback auch durch Ausschüsse unpar-teiischer Bürger/innen »von unten« beeinflusst werden soll.

Die Jugendlichen bleiben dran

Interessanterweise waren es die jugendlichen Teilnehmer/innen, die sich am meisten um Folgen des Bürger-gutachtens gekümmert haben. Im November 2008 trafen sie sich zum Beispiel nochmals in Brüssel, konnten aber den Vertretern der EU wenig Konkretes entlocken (www.ruralsos.org.uk). Es ist zu befürchten, dass hier junge Leute schon sehr früh ernüchtert, ja enttäuscht werden. Hoffentlich nehmen sie es sportlich und mischen sich eher mehr ein als sich von der Politik zurückzuziehen.

Die EU-Kommission ruft – auch aufgrund der guten Erfahrungen mit dem europäischen Bürgergutachten zur Zukunft der ländlichen Räume – immer wieder dazu auf, Vorschläge für Beteiligungsverfahren einzureichen. Die Programme sind leider hoffnungslos unterfinanziert und hängen nicht mit konkreten Politikvorhaben zu-sammen. Es geht also wohl eher darum, dass beteiligt wird, nicht aber darum, zu einer anstehenden Entscheidung wirkliche Einschätzungen und Empfehlungen zu erfahren, die dann berücksichtigt werden.

Evaluiert muss sein

Das ganze Verfahren wurde extern evaluiert, so dass zu den eigenen Erfahrungen wertvolle Außenansichten hinzugekommen sind. Es wäre demnach besser gewesen, wenn alle beteiligten Regionen ebenfalls Teilnehmende ab 12 Jahren einbezogen hätten. Für die Jugendlichen war die sehr verdichtete Arbeitsweise mit Sitzungen in Gruppen und im Plenum sowie dem Studieren von Ergebnissen und deren Bewertung sehr anstrengend. Manche gönnten sich da auch mal eine Pause zwischendrin – vielleicht nur sichtbarer als es die Erwachsenen tun. Möglicherweise hätte man die besonders jungen Leute auch teilweise gesondert arbeiten lassen sollen, so dass sie nicht einer so großen »Übermacht« von Erwachsenen gegenüberstehen. Andererseits ist es gerade wertvoll, dass diese Erwachsenen sich so intensiv und direkt mit Jugendlichen auseinandergesetzt haben. Auch die Arbeitstechniken in den Gruppen könnten vielleicht mehr an die Jugendlichen angepasst werden (zum Beispiel lebendiger und anschaulicher sein). Mehr Pausen könnten alle brauchen, ob alt oder jung. Doch leider sind Zeit und Mittel äußerst knapp.

Dennoch bleibt das Fazit: Es war ein Pilotprojekt, das Verfahren entstand teilweise erst während des Prozesses, und doch hat es geklappt – mit und dank Jugendlichen aus ländlichen Regionen Europas, und hoffentlich auch für sie.

Ergänzung:

Als eine bewährte Möglichkeit der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen auch im ländlichen Raum, aber nicht nur dort, empfiehlt sich auch das Verfahren »Planungszirkel«, das Benno Trütken von forum b entwickelt hat. Es ist eine Fortentwicklung von Zukunftswerkstatt und Planungszelle. Ein Beispiel finden Sie hier: 7. Januar 2009 – Fürstenau: Dokumentation des 2. Planungszirkels Jugendengagement liegt vor.